Gesunde Kranke sind Menschen, die gleichzeitig krank und gesund sind.
Aus Sicht der Pathogenese sind sie krank, da sie unter einer sehr langfristigen oder chronischen Erkrankung leiden, aus welcher heraus sich auch gewisse Einschränkungen ergeben. Aus Sicht der Salutogenese sind sie jedoch gesund, da sie schon lange genug Erfahrungen im Umgang mit ihrer Erkrankung gesammelt haben, dass sie sie gut in ihr Leben integriert haben. Sie haben sich ein gesundes und kohärentes (Arbeits-)Leben gebaut, das für sie verstehbar, handhabbar und sinnhaft ist. Das macht sie nicht nur zu gesunden Menschen, sondern auch zu Gesundheitsexpert:innen.
Als Fachkraft
(individuelle Ebene)
Krankheit tötet Expertise nicht. In den wenigsten Fällen ist die fachliche Expertise der gesunden Kranken beeinträchtigt. Es sind eher die Arbeitsumstände, die betroffen sind. Viele können beispielsweise nicht mehr 40 Stunden arbeiten oder sind örtlich und zeitlich nicht mehr so flexibel. Das Ausschließen von chronisch Kranken aus dem Arbeitsleben bringt nur Nachteile mit sich: den Organisationen fehlen teilweise exzellente Fachkräfte, die Kranken selbst können sich nicht in ihrer Wirksamkeit erleben (ein wichtiger Baustein für ein gesundes Leben) und in unseren Solidargemeinschaften werden Menschen unterstützt, die lieber arbeiten würden.
Als Motoren der Organisationsentwicklung (organisationale Ebene)
Kranke Menschen erschöpfen nicht in anderen Situationen, nur früher und stärker. Aus ihren Erfahrungen heraus lässt sich deutlich diagnostizieren, an welchen Stellen eine Organisation ihre Kraft verschwendet und ihre Mitarbeiter:innen – oftmals unnötigerweise – in die Erschöpfung und Überforderung treibt. Gesunde Kranke sind somit ideale Seismografen für ungesundes Arbeiten. Es gibt inzwischen einen gesellschaftlichen Konsens darüber, dass Krankheiten potente Lernmomente für Menschen darstellen. Sie verfügen jedoch auch über ein riesiges Lernpotential für Organisationen, das nur selten geerntet wird.
Als Impulsgeber:innen für effektive Fördermaßnahmen (systemische Ebene)
Gesunden Kranken ist das gelungen, was Fördermaßnahmen anstreben: ein gutes Arbeitsleben im Einklang mit der individuellen Situation. Die wenigsten jedoch beschreiben, dass die Maßnahmen unserer Solidargemeinschaften sie hierbei unterstützt haben – oftmals haben sie sogar Möglichkeiten versperrt. Diese sind oftmals auf starre Arbeitsdefinitionen ausgerichtet und ermöglichen eben die Einzigartigkeit nicht, die im Zentrum des Gesundheitsbegriffes steht.
Das Projekt
Gesunde Kranke haben noch kein Forum, keine Möglichkeiten voneinander zu lernen und gemeinsame Interessen wahrzunehmen. Da Maßnahmen in Organisationen wie in der Gesellschaft als Ganzes zumeist ohne die Betroffenen selbst entwickelt werden, findet vieles auf Basis von Vorurteilen über die „eingeschränkten und rettungsbedürftigen Kranken“ und nicht in Hinblick auf eine reflektierte Fachkraft mit gut integrierten gesundheitlichen Einschränkungen statt. In einem ersten Schritt soll daher eine Plattform entstehen, die „gesunden Kranken“ eine Stimme gibt und die anderen Personen die Möglichkeit gibt, chronisch Kranke als vollwertige Mitglieder der Arbeitswelt wahrzunehmen.
Geschichten aufbereiten
Der erste Schritt und die Basis für alle weiteren Schritte ist die Aufbereitung von Geschichten der gesunden Kranken, die ihre Erfahrungen und Lösungen teilen. So wird deutlich, dass die Lösungen vielfältig sind: einige haben ihren Weg in einer Organisation gefunden, andere in der Selbstständigkeit. Einige sind „heimlich“ krank, andere vertreten ihre Krankheit selbstsicher. Einige beanspruchen gewisse Ausnahmen im Arbeitsleben, andere nicht. Was sie jedoch alle gemeinsam haben ist die Annahme der Verantwortung für die Lösung.
Empfehlungen für Kolleg:innen ableiten
Die Geschichten selbst werden Kolleg:innen und Vorgesetzte von chronisch Kranken sicher schon ermutigen, das scheinbares Tabu zu brechen und ein offenes Gespräch auf Augenhöhe zu wagen. Zusätzlich soll jedoch all das zusammengetragen werden, das gesunde Kranke sich wünschen bzw. was sie stört, um so unsicheren Mitarbeiter:innen Berührungsängste zu nehmen. Nur auf Basis von offenen Gesprächen können gute und nachhaltige Lösungen für die Zusammenarbeit entwickelt werden. Niemand profitiert davon, wenn auf Kranke Rücksicht genommen wird und andere dann beispielsweise mehr leisten müssen.
Empfehlungen für Organisationen ableiten
Organisationen ist oftmals gar nicht bewusst, an welchen Stellen sie ungesund sind. Durch die Analyse der Geschichten kann eine Art „Landkarte des gesunden Arbeitens“ entwickelt werden. Oftmals sind diese unnötig anstrengenden Momente ganz schnell lösbar, sobald sie bewusst werden, andere wiederum greifen tiefer in die Organisationsentwicklung ein. Insgesamt wird der Fokus nicht auf die Frage gelegt, welche Ausnahmen Kranke benötigen, sondern welche Veränderungen grundsätzlich nötig sind, damit diese Ausnahmen gar nicht nötig sind und das Arbeiten für alle gesünder und effektiver wird.
Empfehlungen für Maßnahmen ableiten
Die meisten gesunden Kranken haben Erfahrungen mit verschiedenen Maßnahmen gesammelt. Aus ihren Geschichten lässt sich ableiten, an welchen Stellen diese Maßnahmen die Gesundung unterstützt haben und an welchen Stellen die gesunden Kranken alleine gelassen wurden. Auch hier darf beides erforscht werden: die kleinen Stellschrauben, die sofort große Verbesserungen bringen als auch die Entwicklung von ganz neuen Angeboten, die sich speziell an Menschen richten, für die Krankheit kein Grund ist, nicht mehr zu arbeiten.
Die Projektinhaberin
Monia Ben Larbi,
Der Verein Lernen / Learning and / und Gesundheit / Health ist auf die Möglichkeiten des Arbeitens mit chronischen Erkrankungen ausgerichtet. Er zentriert um die Krankheits- und Arbeitsgeschichte von Monia Ben Larbi, die nach einer Hirn-OP für arbeitsunfähig erklärt wurde, was jedoch sowohl ihr als ihren Kolleg:innen absurd erschien. Die Vereinsmitglieder bestehen aus Menschen, die mit Monia Ben Larbi in den letzten fünfzehn Jahren an verschiedenen Stellen Arbeitsexperimente durchgeführt und so gemeinsam viel über neue Arbeitsweisen gelernt haben.
Wir führen alle Interviews ehrenamtlich, sind aber sehr dankbar für Spenden für die Dreh- und Aufnahmearbeiten.