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„Ich brauche keinerlei Ausnahmen, nur die Möglichkeit, mich um mich selbst zu kümmern.“

Autorin: Monia Ben Larbi

 

Jule fühlt sich am Ende unseres Gespräches fast schlecht, weil sie so wenig strukturelle Empfehlungen für Organisationen beizutragen hat. Wir sind ihr komplettes Arbeitsleben durchgegangen: die erste tiefe depressive Phase nach dem Studium zwischen Mini-Jobs; das ehrenamtliche Engagement in der Unterkunft für Geflüchtete, das dann fast versehentlich schnell dazu führte, dass sie die Leitung übernahm; ihre Arbeit in der Museumsbildung, in der die Manie eskalierte. Immer wieder suchen wir nach Verbindungen zwischen depressiven und manischen Schüben und ihren Arbeitsinhalten und Arbeitsweisen und natürlich finden wir auch einiges. Was wir aber nicht finden, sind irgendwelche Ausnahmen, die sie aufgrund ihrer chronischen Erkrankung bräuchte. „Eigentlich müssten sich alle nur an die Verträge halten“, meint sie irgendwann zusammenfassend. Ich muss lachen. Das gilt ja nun wirklich für alle. Wann also geht es Jule schlechter? Wenn sie über lange Zeiten 60 Stunden arbeiten muss, weil einfach nicht genug Personal da ist. Wenn sie mit den Problemen von und mit traumatisierten Geflüchteten alleine gelassen wird, einerseits Gewalt, andererseits keinerlei Hilfe, sondern nur die Aufforderung noch mehr zu sparen erfährt. Wenn am Arbeitsplatz kein Pausenraum zur Verfügung steht, in dem sie auch bei schlechtem Wetter mal 10 Minuten Stille genießen kann und das Essen am Schreibtisch verboten ist.  Wenn sie tagelang kaum schlafen kann, weil sie nach einer mehrtägigen Veranstaltung direkt in die nächste fallen muss, da leider jemand vergessen hat, sie davon zu informieren und sie keinerlei Möglichkeit hatte, zu planen.
Jule hat die Verantwortung für ihre Erkrankung zu 100% übernommen und hat keinerlei Anspruchshaltung anderen gegenüber. Tatsächlich ist ihr das so fremd, dass sie die Frage nicht einmal richtig versteht, wie andere (Vorgesetzte, Kolleg:innen, Strukturen) ihr denn hätten helfen können. „Es ist eigentlich ganz einfach“, erklärt sie. „Ich muss regelmäßig essen, trinken und Pausen machen und darauf achten, dass ich genug Schlaf kriege. Mehr ist es gar nicht.“ Dabei kann ihr aus ihrer Sicht niemand helfen. Was sie aber braucht, ist die Möglichkeit, es sich selbst zu organisieren.


Was wir sonst noch als hilfreich herausarbeiten sind alles Dinge, die uns alle im Arbeitskontext - vielleicht sogar im Leben - allgemein betreffen: ein Miteinander, in dem ein „ich schaffe das gerade alles nicht“ möglich ist und das Geben und Nehmen von Unterstützung normal ist; Entscheidungen, die sich ebenso viel an dem Sinn und den Kund:innen wie an dem Gewinn ausrichten; die Sicherheit, dass bei (körperlichen) Angriffen Hilfe zur Verfügung steht; eine grobe Planbarkeit von größeren Aktivitäten; das ungefähre Einhalten von verabredeten Arbeitszeiten; und ganz pragmatisch: ein Ort, an dem alle paar Stunden ein kleiner Moment der Stille möglich ist. Nichts davon erscheint mir für Organisationen sonderlich anstrengend, im Gegenteil, es ist fast gewerkschaftlich grundlegend.


Unsicherheiten hat sie allerdings, wenn es um Vorurteile geht. Sie erzählt potenziellen Arbeitgeber:innen lieber nichts von ihrer Krankheit. Einmal, nach einem längeren Ausfall, war es ihr aber ein Anliegen, sich zu erklären. Als sie ihrer Vorgesetzten von ihrer Erkrankung erzählte, gab es einen kurzen Moment der Nähe. Diese nahm sie in den Arm und erzählte ihr unter Tränen von einer nahen Verwandten, die auch betroffen war. Dann erklärte sie das Gespräch für hochvertraulich und sie sprachen nie wieder darüber. Das war eine so kleine und intensive Öffnung, dass sich Jule manchmal sogar fragt, ob sie das geträumt hat. Auch an anderen Stellen hat Jule das Tabu und das Unverständnis erlebt, bei Ärzt:innen, der Agentur für Arbeit, der Rentenversicherung. Sie hat schnell aufgehört, dort Unterstützung zu erwarten und sich lieber selbst gekümmert – und das macht sie exzellent. Aus ihrer Sicht ist ihre Krankheit im Arbeitskontext weder Stärke noch Schwäche.


Als sie bei der Working Evolutions angefangen hat, hat sie uns nach und nach von ihrer Erkrankung erzählt. Mein Erleben mit Jule ist es, dass es Phasen gibt, in denen sie etwas gedämpfter ist als ihr sonst so strahlendes Selbst und manchmal etwas schneller wird und enthusiastisch vieles wegarbeitet. Wie wir alle auch. Hätte sie es nicht erzählt, hätte ich nie etwas bemerkt. Für uns als Kolleg:innen ist es eher ein Geschenk, dass sie so viel Bewusstheit und Reflexion reinbringt, viele schöne Dinge bemerkt oder auch mal an Pausen erinnert oder uns vorlebt, wie ein paar Minuten stille Sonne auf der Nase alles besser in Fluss bringen.  Und wir alle lieben und bewundern die Ehrlichkeit und Kraft, die sie ausstrahlt, wenn sie über ihre Krankheit spricht:
 

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